Station 4: Schottenplatz – Paula Goldlust berichtet

Aus einer Rede von Paula Goldlust, Jahrgang 1928, die sie hielt als sie 2009 anlässlich der Verlegung von Stolpersteinen für ihre Familie erstmals mit ihrem Sohn aus den USA nach Konstanz reiste.

Dies ist der einzige Ort, wo mein Bruder Leo und ich ein Zuhause und noch beide Eltern hatten, wenngleich auch nur für eine sehr begrenzte Zeit. Der 10. November 1938, dieser Alptraum meiner Kindheit, setzte dem ein jähes Ende. Die Gestapo kam und verhaftete meinen Vater, so wie alle anderen Männer der Konstanzer jüdischen Gemeinde, und schickte sie nach Dachau.

Mein Vater konnte zu uns zurückkehren. Wir waren überglücklich ihn lebend wiederzusehen, doch war er krank und nicht mehr der Papa, den wir gekannt hatten. Unsere Eltern machten sich große Sorgen um die Zukunft und die Zukunft ihrer Kinder. In der Hoffnung in die USA, nach Kanada oder nach Israel (damals Palästina) auswandern zu können, gelang es meinem Vater nach England zu emigrieren, die Trennung sollte nur vorläufig sein. Doch mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges blieben wir in einer hoffnungslosen Situation zurück.

Einige Worte zu meinem Bruder Leo: seine Schulbildung an der Stephansschule endete am 10. November 1938. Er war damals in der 8. Klasse. Trotzdem gibt es in der Stadt Chicago Krankenhaus- und Bürogebäude, für die er die Entwürfe gestaltet und den Bau beaufsichtigt hat. Er war Partner eines befreundeten Architekten. [...]

Zu Gurs:

Ich weiß, Sie haben viel über die Deportation nach Gurs und die Lebensbedingungen dort gehört – dennoch möchte ich ein paar persönliche Anmerkungen und Erinnerungen ergänzen. Hunger, Schlamm, in dem die Menschen buchstäblich steckenblieben, vor Schmutz starrende Latrinen, Ratten, Typhus, Tod, noch mehr Hunger, ein dünner Strohsack und Stacheldraht. Wir waren in Ilot M. Die Baracke, in der meine Mutter und ich untergekommen waren, stand der von Nelly Alexander gegenüber. Die kleine Ruthie erinnert sich nicht mehr an viel, doch erinnert sie sich noch, dass auch eine Tante mit ihnen dort war. Je nach Bewachung, die an einem Wachhäuschen am Ausgang jedes llots ihren Dienst versah, konnten manchmal die Kinder die Ilots verlassen – oder auch nicht. Die Konstanzer Männer waren alle in einer Baracke im Ilot E untergebracht. So unternahm ich mit der dreieinhalbjährigen Ruthie (ich selbst war damals 12 Jahre alt) Versuche, in llot E zu gelangen, damit sie ihren Vater und ihren Großvater besuchen konnte und ich meinen Bruder Leo. Ruth erinnert sich, dass sie dabei etwas trug – etwas Essen, das sich ihre Mutter zweifelsfrei am eigenen Mund abgespart hatte, um es ihrem Mann zu schicken. Meine Mutter teilte ihren kleinen Kanten Brot in 2 Teile, eine Hälfte für Leo und die andere Hälfte für mich. In jener Zeit Eltern gewesen zu sein, muss eine wahre Qual gewesen sein. Dann die Trennung von den Kindern in der Hoffnung auf unser Überleben. Aber heute bin ich nicht allein hier.